Montag, 11. März 2013

Krank sein bedeutet, auf weiße Wände zu schauen

 Als ich fünf Jahre alt war, wurde ich für sechs Wochen nach Borkum verschickt. Ich war ein zartes Kind, das wenig aß. Meine Eltern und die Ärzte erhofften sich eine Kräftigung durch die Meeresluft und einen Anreiz durch andere Kinder, kräftig zuzulangen.
Es gab manches Schöne: das Fahren in einem Wagen, gezogen von Max und Moritz, den Ponies auf dem Strand. Abends vor dem Einschlafen ertönte das Schifferklavier und das ganze Haus wurde erfüllt von Seemannsliedern. Die Kinder saßen auf den breiten Treppen und sangen aus vollem Halse mit.
Nur zugenommen habe ich nicht, ich war sehr klein, die Jungs auf meinem Zimmer entwendeten meinen Bären, meinen besten Freund und spielten mit ihm Kickboxen. Schließlich wurde ich krank.
Ich lag ganz allein auf der Krankenstation in einem weiß getünchten Zimmer. Alles war weiß: der Boden, die Wände, die Decke, die Türe, die Möbel, die Bettwäsche. Es gab kein Bild, keinen Farbtupfer.



Ich lag dort sehr einsam, kaum kam jemand kurz herein, vielleicht schlief ich auch die meiste Zeit 
Ich erinnere mich nur an die wie endlos erscheinende Weiße, wie eine unendliche Schneelandschaft, ein Gebiet im Polarkreis, in der der Wind, sowie auch die Stille zu Hause sind.


Seitdem bedeutet Krankheit für mich auf weiße Wände zu schauen.
Auch wenn ich in meiner bunten Wohnung liege, sehe ich das Weiß.


Die ganze Welt, die sich so turbolent gestaltet, ist plötzlich wie weg gewischt. Es ist nichts mehr da was mich irgendwie aufregt oder in Gang hält. Auf dieser weißen Fläche ist erst einmal nichts enthalten, es beruhigt mich, macht meine Sinne still.
Ich liege und sehe das Weiß - stundenlang. Es tut gut.
Ich weiß im Weiß ist alles enthalten und nach überstandener Krankheit treten alle Farben aus ihm hervor und die Welt dreht sich für mich weiter.

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